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Cyberhände, Neuroprothetik und die bionische Revolution - die neue Welt der Orthopädie
Forscher entwickeln gedankengesteuerte Armprothesen. Eine mit dem Nervensystem verbundene Cyberhand zeigt Funktionen, die sie kaum von einer natürlichen Hand unterscheidet. Mikroprozessoren steuern Kniegelenke aus Titan. Ultraleichte Karbonbeine brechen Laufrekorde. Das ehrbare Handwerk der technischen Orthopädie von einst ist heute interdisziplinäre High-Tech- Branche mit zukunftsweisender Forschung.
Die Wiener Presse bestaunt im November 2007 eine medizinische Sensation: Christian Kandlbauer (20) verlor bei einem Unfall beide Arme. Seither war er auf fremde Hilfe angewiesen. Jetzt demonstriert er die erste gedankengesteuerte Armprothese, mit der ein Patient in Europa versorgt wird. Kandlbauer ist jung genug. Denn die revolutionäre High-Tech-Prothese ist nur für Patienten geeignet, deren Armverlust noch nicht lange zurückliegt. Voraussetzung für das Funktionieren der gedankengesteuerten Prothese, die vom deutschen Unternehmen Otto Bock und Forschern in den USA entwickelt wurde, ist eine komplizierte Operation. Dabei werden noch vorhandene Nerven des amputierten Armes verlagert und mit übrig gebliebenen Muskeln verbunden.
Diese Verbindung von Mensch und Prothese ermöglicht eine intuitive Steuerung. Der Patient „denkt“ die Bewegung seines verloren gegangen Arms. Elektroden nehmen die Nervensignale auf und leiten diese an ein komplexes, elektronisches Analysesystem im Inneren der Prothese. Dort werden die Impulse in Steuerbefehle für Motoren umgesetzt. Von der Schulter bis zur Hand bewegt sich der Kunstarm über sieben Gelenke in die Richtung, die Kandlbauer "denkt". Die Perfektion menschlicher Gliedmaße und ihrer Bewegungen sind Vorbild für die Prothesen der neuesten Generation, die in Aussehen und Funktionalität den natürlichen Vorbildern immer ähnlicher werden. Bionik und Neuroprothetik sollen zum volltauglichen Ersatz der amputierten Gliedmaße verhelfen. Bionik, ein Kunstwort aus Biologie und Technik, hat die Welt der Orthopädie - Technik verändert und steht auf dem Sprung, auch die Alltagswelt zu erobern.
Cyberhand und Neuroprothetik
Bei der Messe und Kongress ORTHOPÄDIE + REHA-TECHNIK von 21. bis 24. Mai 2008 in Leipzig präsentiert die Firma Touch - Bionics der Fachwelt die erste auf dem Markt verfügbare bionische Hand der Welt. Die Handprothese wird mit fünf von Motoren angetriebenen Fingern gesteuert, sieht aus und funktioniert wie eine natürliche Hand und erleichtert Amputierten das Leben enorm. Bis zu 90 Prozent aller im Alltag wichtigen Bewegungen führt die Kunsthand aus. Gängige Griffmuster wie den "Zylindergriff" zum Halten einer Tasse, den "Pinzettengriff" zum Aufheben eines Bleistifts sowie den "Schlüsselgriff" zum Halten von Schlüsseln, Kreditkarten und anderen flachen Gegenständen sind leichte Übungen. Dabei passen sich die lebensechten Finger der i-LIMB-Hand der Form des Gegenstandes an und umfassen ihn. Myoelektrische (myo = Muskel) Signale steuern die Motoren zum Öffnen und Schließen. Beim Anspannen erzeugen die Muskeln des Stumpfes kleine elektrische Impulse. Elektroden am Armansatz, der Schnittstelle von Mensch und Prothese, nehmen diese Signale an der Hautoberfläche auf und leiten sie an die Steuerung weiter.
Forscher des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik (IBMT) in St. Ingbert arbeiten bereits an einer Kunsthand, die auch Sinneseindrücke an das Gehirn leitet. Der Träger der Cyberhand spürt, wie die Fingerkuppen Gegenstände berühren, Heißes oder Kaltes zu fassen bekommen. Der Trick besteht wie bei der Armprothese darin, noch vorhandene Nervenfasern im Armstumpf direkt mit kleinsten Elektroden zu verbinden. Rückkopplungen zum Gehirn werden möglich. Empfindungen wie Temperatur und Druck kehren, dank Neuroprothetik, teilweise zurück.
Schnell ohne Beine
Mit Riesenschritten sprintet der beidseitig unterschenkelamputierte Oscar Pistorius (21) ins Ziel. 45,56 Sekunden für 400 Meter. Nur eine halbe Sekunde von der Olympianorm entfernt. Doch selbst wenn sich Pistorius um 10 Sekunden verbessern würde, es reichte nicht. Wegen Techno-Dopings wäre er bei den Olympischen Spielen in Peking nicht dabei. Der Leichtathletik-Weltverband hat entschieden, dass die Karbonprothesen dem südafrikanischen Athleten deutliche Wettbewerbsvorteile verschaffen und deshalb unerlaubte Hilfsmittel seien. Den Unterschied zwischen den löffelförmigen Kohlefaser-Federbein-Prothesen, mit denen Pistorius sprintet, und dem menschlichen Fuß beschreibt der Kölner Biomechanik - Professor Gerd-Peter Brüggemann als so deutlich, wie den zwischen einem Fahrrad mit Gangschaltung und einem Drahtesel pur. Die isländische Firma Össur, einer der führenden Hersteller bionischer Prothesen, demonstriert am Beispiel der superschnellen Rennbeine, die enorme Leistungsfähigkeit moderner Prothetik.
Leben ohne Handicap
Fehlende Körperteile zu ersetzen und Handicaps auszugleichen ist ein alter Menschheitstraum. An einer 3000 Jahre alten ägyptischen Mumie fanden Archäologen den Ersatz einer Zehe des rechten Fußes. Die eiserne Hand des Ritters Götz von Berlichingen war im 16. Jahrhundert eine orthopädietechnische Meisterleistung. Bis ins 19. Jahrhunderte blieben Prothesen jedoch starr oder konnten nur mit der gesunden Hand bewegt werden. 1812 wagte der Zahnarzt und Chirurgietechniker Peter Baliff den Schritt zur mechanischen Kraftübertragung. Er nutzte die noch vorhandene Muskelkraft des amputierten Armes, um eine Prothese mit Seilzügen zu bewegen. Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzten sich elektrische Systeme durch. Der Wunsch jedoch, Funktionalität und Aussehen verlorener Gliedmaße durch perfekt funktionierende Prothesen zu ersetzen, ist noch lange nicht erfüllt.
Forschung geht unter die Haut
Die gedankengesteuerte Armprothese ist gegenüber üblichen Prothesen ein Meilenstein der Entwicklung und ein erster Ansatz, biologische Signale zur Steuerung von Prothesen einzusetzen. Professor Dr. Thomas Stieglitz vom Institut für Mikrosystemtechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sieht in der Verbindung von Neuroimplantaten und Prothetik die Zukunft: “Das Einbinden natürlicher Bewegungsprogramme als Steuersignale für technische Systeme (Prothesen) scheint ein Weg zu sein, der zu einer völlig neuen Benutzerqualität von Prothesen führen kann. Hierbei hat das technische System die Aufgabe, die Muster des Patienten zu deuten und nicht mehr der Mensch die Aufgabe, Muster zu generieren, mit denen das technische System klar kommt." Ein Weg ist, Elektroden auf der Hautoberfläche oder den Muskeln anzubringen. Der Nachteil: Unversehrte, tiefer liegende Muskeln werden oft nicht erreicht. Elektroden direkt am Nerv anzubringen hat den Vorteil, Gedankensignale deutlicher aufzunehmen und so die Feinsteuerung der Prothese zu verbessern. Eine dünne Schicht Elektronik über einer haarfeinen Platte, die gerade mal acht mal acht Millimeter groß ist, und aus der hundert feine, spitze Nadeln nach unten heraus ragen – so könnte in wenigen Jahren die Schnittstelle aussehen, über die Menschen eine Prothese fast so gut wie eine normale Hand oder ein gesundes Bein bewegen. Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin (TUB) und des Fraunhofer - Instituts in Berlin-Wedding entwickeln ein solcher "Interface" und geben der Technik in der Praxis gute Chancen.
Array - hundert Spitzen im Gewebe
"Ein solches Interface lässt sich zwar auch direkt verdrahten", erklärt der Physiker Matthias Klein vom Fraunhofer-Institut Berlin. Es bestehe aber ein erhebliches Infektionsrisiko. Deshalb entwickeln die Berliner Forscher gemeinsam mit der University of Utah eine drahtlose Schnittstelle, auch "Array" genannt. Die hundert nadelfeinen Spitzen an der Unterseite werden in das Gewebe gedrückt. Der Rest ist Mikroelektronik vom Feinsten. Sendet eine Nervenzelle ein Signal in Form eines winzigen elektrischen Stromimpulses, nehmen die Nadelspitzen diesen Impuls auf und leiten ihn an einen winzigen Chip, der das schwache Signal verstärkt. Steckt ein Interface oder Array im Gewebe und wünscht sich der Mensch, seine Hand zur Faust zu ballen, wird dieses Nervensignal zu einer Software geleitet, die den Befehl “Faust ballen“ an die Elektronik in der Prothese weiter gibt. Der Mensch lernt, die Prothese fast wie eine normale Hand zu benutzen. Sinneseindrücke wie Greif- und Tastsinn werden via Elektrosimulation zurück gekoppelt und teilweise wieder hergestellt.
Entwicklung der Orthopädietechnik
Experten raten, trotz aller wissenschaftlichen Erfolge, zu nüchterner Betrachtung. Jede Amputation ist ein schwerwiegender Eingriff, auf den jeder Patient anders reagiert. Jeder Gliedmaßenstumpf bedarf der individueller Versorgung. Alter, körperliche und mentale Verfassung der Patienten sind dabei wichtig. Viele neue Entwicklungen sind eher unauffällig, aber von größter Wirksamkeit für das Wohlbefinden. So ist die Stumpfeinbettung, die Kontaktzone zwischen Haut und Prothesenschaft, ein „klassisches“ Problemfeld der Orthopädie. Vor allem bei älteren Patienten, die nach Gefäßverschlüssen an der unteren Extremität operiert werden müssen, ist es wichtig, die Prothese optimal an den Stumpf und an ihre Mobilitäts- und Sicherheitsbedürfnisse anzupassen. Neue Materialien wie Liner-Systeme, flexible Thermoplaste und Silikon verbessern die Haftung der Prothese am Körper, vermindern Druck- oder Scheuerprobleme und erhöhen den Tragekomfort. Dr. Ing. Marc Kraft, Professor für Medizintechnik an der Technischen Universität Berlin, beschreibt die Situation wie folgt: "Neuentwicklungen prothetischer Komponenten für Amputierte gibt es in allen Zielgruppen. Wegweisend sind weniger einzelne Produkte, als Tendenzen bzw. Entwicklungstrends. Eine große Herausforderung wird es in Zukunft sein, die Ankopplungsstelle zwischen Prothese und Patient noch besser zu gestalten. Es wäre weiterhin ein großer Fortschritt wenn es gelänge, Prothesen der oberen Extremität direkt an das Nervensystem des Patienten anzuschließen. Die grundlegenden Entwicklungstendenzen werden sich in Zukunft nicht ändern. Es geht weiterhin darum, die Funktionalität prothetischer Komponenten weiter an die Funktionalität der verlorenen Gliedmaße anzunähern. Ein tatsächlich vollständiger Ersatz wird nie möglich sein. Doch hilft es den Betroffenen schon sehr, den Grad ihrer Behinderung durch moderne Prothesen deutlich zu senken."
Quellenachweise:
Quellennachweis und mehr Informationen zum Thema BIONIK-Arm:
Otto Bock HealthCare GmbH, 37115 Duderstadt, b.bressler@comma.at, www.ottobock.de
Dr. Jens Clausen, Universität Tübingen, 72076 Tübingen, www.uni-tuebingen.de/medizintechnik
Prof. Dr. Ing. Thomas Stieglitz, Lehrstuhl für Biomedizinische Mikrotechnik, Institut für Mikrosystemtechnik (IMTEK)
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, www.imtek.de/bmt
Quellennachweis und mehr Informationen zum Thema bionische Handprothese:
Touch Bionics, www.touchbionics.com
Fraunhofer Institut für Biomedizinische Technik, www.ibmt.fraunhofer.de
Quellennachweis und mehr Informationen zum Thema Laufprothese:
Össur Europe BV, Römerfeldstraße 2, 50259 Pulheim, www.ossur.de
Quellennachweis und mehr Informationen zum Thema Interface:
Pressestelle der Technischen Universität Berlin
Quellennachweis und mehr Informationen zum Thema Entwicklung Orthopädietechnik:
Prof. Dr. Ing. Marc Kraft, Fachgebiet Medizintechnik,Technische Universität Berlin
Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, Bernd Wünschmann, Reinoldistraße 7-9, 44135 Dortmund
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik, Schliepstraße 6-8, 44135 Dortmund, www.ot-bufa.de
© Radermacher & Schmitz Public Relations über ddp direkt / Veröffentlicht am 28.03.2008